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Titel
Abseits vom Kurs. Die Geschichte des VEB Hinstorff Verlag 1959–1977


Autor(en)
Hohner, Kerstin
Erschienen
Berlin 2022: Ch.Links Verlag
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pawel Zajas, Adam-Mickiewicz-Universität Poznań / University of Pretoria

Die DDR wurde bislang nicht unbedingt als ein wesentlicher Akteur der transnationalen literarischen und verlegerischen Beziehungen wahrgenommen. Dies mag an der Modellierung des Forschungsgegenstandes gelegen haben, die auch in anderen Disziplinen – etwa der Geschichtswissenschaft, den Sozial- und Politikwissenschaften – ebenso weit verbreitet ist wie in der Literatur- und der Buchwissenschaft. Gedeutet als eine „Diktatur der Grenzen“ oder aber als eine „gescheiterte sowjetische Satrapie“, schien Ostdeutschland an den transnationalen Dynamiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange vorbeigegangen zu sein.1 In der Buchwissenschaft sind zahlreiche Forschungsfragen zum Literaturbetrieb der DDR zwar im Wesentlichen bereits geklärt. So wurden Vorstellungen eines der monolithischen Hegemonialmacht unterliegenden Zensursystems weitgehend revidiert. Forschungen zu Rahmenbedingungen des kulturpolitischen Handelns umfassten nicht nur formelle Organisationsstrukturen, sondern auch das informelle Netzwerk-Handeln diverser Funktionärsgruppen.2 Die einzelnen Analysen haben gezeigt, dass hinter der Fassade des scheinbar konsolidierten Herrschaftssystems zahlreiche Interessengegensätze und Bündniskonstellationen bestanden. Entscheidungen über einzelne Autorinnen, Autoren und deren Werke waren oft nicht das Ergebnis eines zielgerichteten programmatischen Handelns, sondern wurden in den meisten Fällen von individuellen Akteuren und Gruppenkonflikten bestimmt; ein kollektivbiographischer Zugang hat es ermöglicht, Netzwerkstrukturen historisch fassbar zu machen.3 Vielen Forscherinnen und Forschern gelang es, das komplizierte Wechselverhältnis von diktatorischem Herrschaftsanspruch und den darauf bezogenen gesellschaftlichen Reaktionsmustern auszuloten, ohne dass der Stellenwert von Gewalt und Repression aus dem Blickfeld geriet.

Trotz dieser Fülle an Forschungsliteratur zum DDR-Literaturbetrieb wurden seine transnationalen Dimensionen, vor allem im Rahmen des europäischen „Ostblocks“, weitgehend ausgeblendet. Die Geschichten von den DDR-Leitverlagen auf dem Gebiet der ausländischen Belletristik haben trotz der internationalen Ausrichtung der Verlagsprogramme und enger Kontakte zu west- wie osteuropäischen Autorinnen und Autoren, Literaturvermittlern, Verlagen, Zeitschriftenredaktionen und kulturpolitischen Gremien die diesbezüglichen Archivquellen noch nicht hinreichend ausgewertet. So stützt sich die Geschichte des Verlages Volk & Welt, herausgegeben von Simone Barck und Siegfried Lokatis, vorwiegend auf Memoiren ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das teilweise überlieferte Verlagsarchiv wurde lediglich im Hinblick auf ausgewählte Autorinnen, Autoren und deren Werke sowie für Anthologien und Reihen konsultiert. Dennoch bietet diese Verlagsgeschichte, im Vergleich zu anderen Studien, interessante Einsichten in das internationale Netzwerk des Verlages.4 Konstantin Ulmer komprimierte dagegen die ausländischen Kontakte des Aufbau-Verlages auf zehn Seiten und schmückte seine sonst ausgezeichnet recherchierte Studie mit wenigen Beispielen der dort verlegten internationalen Literatur.5 Selbst die erste umfassende Überblicksdarstellung des herstellenden wie verbreitenden Buchhandels in der SBZ und DDR, deren erster Teil 2022 im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erschienen ist, hat die DDR-Buchlandschaft kaum in die vielfältigen inter- und transnationalen Beziehungen eingebettet.6

Auch Kerstin Hohner ist es nicht gelungen, den historiographischen Nationalismus zu überwinden. Im Fokus ihrer an der Universität Jena entstandenen Dissertation steht der Zeitraum 1959 bis 1977, also die Zeitspanne nach der Überführung des privaten, 1831 gegründeten Hinstorff Verlages in Volkseigentum bis zum Ausscheiden des legendären Leiters Konrad Reich (1928–2010). Die Autorin durchforstete in akribischer Arbeit die im Stadtarchiv der Hansestadt Rostock aufbewahrten Verlagsunterlagen, welche zur Zeit des Schreibens noch nicht ganz erschlossen waren. Besondere Berücksichtigung fanden die Dokumente zur Geschichte, Leitung, Organisation, Verwaltung und zum Lektorat des Verlages sowie Korrespondenzen und Verlagsnotizen zu einzelnen Editionsprojekten; Recherchen im Privatarchiv des Verlegers Reich wurden der Autorin nicht gewährt. Angereichert hat sie ihr historisches Narrativ durch Interviews mit Schriftstellerinnen, Schriftstellern und Lektoren. Somit erhalten die Leserinnen und Leser einen gediegen recherchierten, chronologischen Einblick in die Geschichte des Verlages, dessen Editionspolitik an zahlreichen Fallbeispielen dargestellt wird, besonders im Hinblick auf die Veröffentlichung politisch unerwünschter oder heikler Themen. Jedes der vier Hauptkapitel enthält einen ganz knappen Einstieg zur „Ausgangssituation“, ein Teilkapitel „Der Verlag und seine Entwicklung“ sowie einen Abschnitt „Ausgewählte Publikationsprojekte“ mit jeweils zwei bis drei Beispielen. „Abseits vom Kurs“ ist als Nachschlagewerk eine sehr nützliche Handreichung für weitere Forschungen.

Bestandsbezogene Verlagsgeschichten sowie andere buchwissenschaftliche Abhandlungen stützen sich nicht selten auf langwierige Recherchen. Dass Archivarbeit in aller Regel eine herausforderndere Beschäftigung darstellt als der Umgang mit gedruckten Quellen, soll nicht verschwiegen werden: Angefangen hat Hohner ihr Abenteuer mit dem riesigen Bestand im Jahr 2011; ein Jahrzehnt später schloss sie das Projekt mit der erfolgreichen Verteidigung der Dissertation ab. Das nun vorliegende Buch hat zweifelsohne ein großes inhaltliches Gewicht, es wird aber nicht unbedingt von methodologisch-theoretischen Fragen geleitet. In diesem Kontext gab Reinhart Koselleck einmal den für das Archiv begeisterten Forscherinnen und Forschern eine wichtige Warnung mit auf den Weg. Er schrieb: „Um eine Geschichte zu erkunden und zu erzählen, müssen zunächst die Archivalien zum Sprechen gebracht werden. Dazu bedarf es einer Befragung. Erst wenn wir ein Archivstück befragen, wird aus dem Archivstück eine Quelle. Wer nichts sucht, findet nichts, wer nichts fragt, erhält keine Antwort. [...] Eine Summe von addierten Aktenstücken ergibt so wenig eine Geschichte, wie die Aneinanderreihung von Punkten eine Linie ergibt.“7

Eine methodologisch systematisierte Befragung der Archivalien lehnt Hohner offenbar ab. Im Kapitel „Theoretische Überlegungen und methodisches Vorgehen“ (S. 12–16) verweist die Autorin auf die vom Historiker und Medienwissenschaftler Thomas Keiderling beobachtete „Untertheoretisierung“ der Buchwissenschaft, fasst daraufhin system- und feldtheoretische, wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche sowie literaturwissenschaftliche Ansätze knapp zusammen, um zeitgleich aber zu verkünden, dass sie in ihrem Buch ohne jegliche Theorie auskomme: „Vor diesem Hintergrund rückt diese Arbeit die Quellen in den Mittelpunkt, anhand derer chronologisch und deskriptiv die Geschichte und Editionspolitik des Hinstorff Verlages rekonstruiert wird [...]. Die Quellen wurden in einer gründlichen und umfassenden Recherche ausgewählt und zusammengetragen, historisch-kritisch analysiert und in den jeweiligen historischen Kontext eingeordnet [...].“ (S. 15f.)

Diese lobenswerte Gründlichkeit hat jedoch mitunter zur Folge, dass die Fallbeispiele anhand der überlieferten Akten minutiös nacherzählt werden. Dennoch ist ihre Lektüre lohnend. So schildert Hohner unter anderem, wie Konrad Reich, der über eine Vielzahl an Verbindungen in die Bundesrepublik verfügte, sowie sein „liberaler“ Cheflektor Kurt Batt bereits in der Ulbricht-Ära mittels Anthologien die wichtigsten angesehenen Autoren der DDR einer breiten Leserschaft zugänglich machten. Das Format der Anthologie wurde bekanntlich öfters genutzt, um die in der DDR umstrittenen Namen an unauffälliger Stelle und in einer kleineren Auflage auf dem Buchmarkt zu platzieren, mit der Absicht, jene Texte in größerem Umfang in den Kanon der DDR-Literatur einzuführen. Die Anthologien boten auch dem Hinstorff Verlag die Möglichkeit, wichtige Namen zu versammeln, ohne der Abwerbung bezichtigt zu werden (S. 150–153). Den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker und die durch den Letzteren angekündigte „Absage an Tabus“ nutzten Reich und Batt für eine thematische und editorische Erweiterung des Verlagsprogramms. Hohner rekonstruiert die Zusammenarbeit mit Autoren wie Hans Joachim Schädlich, Thomas Brasch, Jurek Becker und zeigt, wie der nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED (1965) in die Schublade gelegte Text „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf Ende 1972 unter dem neuen Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, Klaus Höpcke, schließlich die Druckgenehmigung erhielt und sich zu einem Kultbuch entwickelte.

Zurück zu dem eingangs skizzierten historiographischen Nationalismus: Kerstin Hohner schreibt ihre ausgezeichnet recherchierte Geschichte des Rostocker Hinstorff Verlages ebenfalls mit einem recht engen Blick auf die (teil-)nationale Container-Gesellschaft der DDR. Sie verweist zwar an einigen wenigen Stellen auf die kulturpolitische Bedeutung des Verlages vor dem Hintergrund der alljährlich in Rostock stattfindenden Ostseewoche sowie auf die Etablierung der nordeuropäischen Literatur im Verlagsprogramm, hat diese Problematik in ihrer archivarischen Fleißarbeit jedoch gänzlich ausgespart. Das Buch stellt somit erneut unter Beweis, dass die Geschichte des DDR-Literaturbetriebs noch lange kein „Auslaufmodell“ ist.8

Anmerkungen:
1 Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Wien 1999, S. 13–44, https://doi.org/10.14765/zzf.dok.1.832 (21.05.2023); Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und die DDR, 1949–1990, München 2008, S. 425.
2 Vgl. u.a. Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis, „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997, https://doi.org/10.14765/zzf.dok.1.1045 (21.05.2023); Michael Westdickenberg, Die „Diktatur des anständigen Buches“. Das Zensursystem der DDR für belletristische Prosaliteratur in den sechziger Jahren, Wiesbaden 2004; Carsten Gansel, Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–1961, Berlin 1996; Dietrich Löffler, Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick, Bonn 2011.
3 Vgl. u.a. Siegfried Lokatis / Martin Hochrein (Hrsg.), Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR, Stuttgart 2021; Siegfried Lokatis, Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR, Stuttgart 2019; Holger Brohm, Die Koordinaten im Kopf. Gutachtenwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik, Berlin 2001.
4 Simone Barck / Siegfried Lokatis (Hrsg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt, Berlin 2003.
5 Konstantin Ulmer, Man muss sein Herz an etwas hängen, das es verlohnt. Die Geschichte des Aufbau Verlages 1945–2020, Berlin 2020, S. 208–219.
6 Christoph Links / Siegfried Lokatis / Klaus G. Saur (Hrsg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 5: Deutsche Demokratische Republik, Teil 1: SBZ, Institutionen, Verlage 1, Berlin 2022.
7 Reinhart Koselleck, Archivalien – Quellen – Geschichten, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Hrsg. und mit einem Nachwort von Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 75f. (Hervorhebung im Original).
8 Ulrich Mählert / Manfred Wilke, Die DDR-Forschung – ein Auslaufmodell? Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 465–474; Roland Berbig (Hrsg.), Auslaufmodell „DDR-Literatur“. Essays und Dokumente, Berlin 2018.

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